Die vielen Tode des Opa Jurek – Ein Schelmenroman im 20. Jahrhundert

Samstag, 19. November 2016 | 

Schlagwörter »  |  Thema: 2016-3, Allgemein, Alumni Buchtipps, Newsletter

Wer kennt Sie nicht – die Erzählungen der Großeltern? Und wie in einer jeder solchen Geschichte erscheint alles ein bisschen lustiger und harmloser als es eigentlich war. So auch in Matthias Nawrats “Die vielen Tode unseres Opa Jurek”, ein 400-seitiger Streifzug unseres Alumnus durch die polnische Geschichte des 20.Jahrhunderts.

"Die vielen Tode unseres Opas Jurek" von Matthias Nawrat, 416 Seiten, rowohlt, 22,95 €.
“Die vielen Tode unseres Opas Jurek” von Matthias Nawrat, 416 Seiten, rowohlt, 22,95 €.

Eigentlich ist Opa Jurek schon viele Tode gestorben. Die meisten davon waren schlimmer als sein eigentlicher Tod. So zum Beispiel die vielen kleinen und großen Tode während eines von einem “weltbekannten Politiker” angeordneten Arbeitsaufenthaltes in der Nähe des polnischen Dorfes Oświęcim. Dem heutigen Leser ist das Dorf besser als Auschwitz und der “weltbekannte Politiker” als Adolf Hitler in Erinnerung geblieben. Oder die vielen anderen Beinahetode in einem vom Krieg zerstörten und von der Sowjetunion besetzten Polen.

Wie in diesem Beispiel deutlich wird, wählt Matthias Nawrat in seinem dritten Roman einen gelegentlich ungewöhnlichen Ton für heikle Themen. Im Stil eines Schelmenromans reihen sich Erinnerungen an Krieg, Verfolgung und Unterdrückung, welche die polnische Geschichte des 20. Jahrhunderts prägten, aneinander. Dabei werden eigentlich ernste Themen wie der Holocaust, die Willkür der sowjetischen Besatzung oder einfach nur existentielle Armut als teils komische, teils phantastische Anekdoten eben jenes Opa Jurek erzählt. Wie in jeder Anekdote und den meisten Schelmenromanen üblich, rettet sich der Protagonist durch Schläue und Witz. So entgeht auch Opa Jurek seinen vielen Toden. Dass dabei die Gräuel der Realität verharmlost werden, ist zwar ein Nebeneffekt, jedoch in der Erzählstruktur schlüssig. Wer erzählt seinen Enkeln schon jedes kleine Detail seiner Vergangenheit? Wer macht sich in seinen Anekdoten nicht gerne ein bisschen klüger und unerschrockener als er im Moment des Geschehens eigentlich war?

Diese Ansammlungen von Anekdoten ergeben so nicht nur ein stimmungsvolles Bild einer polnischen Familiengeschichte im 20. Jahrhundert, sondern sie schildern auch ein Jarhundert polnischer Geschichte aus der Sicht eines fiktiven Einzelnen. Dabei bleibt die Sicht auf die Geschehnisse nicht nur persönlich und subjektiv sondern auch sehr menschlich.

So menschlich, dass ein Abend mit den 400 Seiten von Nawrats Buch fast wie ein Abend mit “unserem Opa Jurek” anmutet.

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