Theorie des 68er-Lebensgefühls

Samstag, 7. November 2015 | 

Welches Buch würden sie fünf Jahre mit sich rumtragen? Der Student und spätere Gründer des Verlags „Merve“ hatte in den 1960ern fünf Jahre Adornos „Minima Moralia“ ständig bei sich. Welche Bedeutung die zeitkritischen Theorien für ihn und seine Mitstreiter hatten und wie sich das revolutionäre Milieu in den folgenden Jahrzehnten entwickelte, beschreibt Historiker Philipp Felsch in seinem Werk „Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte. 1960-1990“.

Cover "Der lange Sommer der Theorie"
“Der lange Sommer der Theorie” von Philipp Felsch, 327 Seiten, C.H.Beck, 24,95 €.

Wer das Buch des Historikers einordnen will, kommt dem wohl am nächsten, wenn er es als Geschichte der Theorie eines Lebensgefühls beschreibt. Felsch geht es inhaltlich nur flüchtig um die Werke von Adorno oder Foucault, die für Gente und eine ganze Generation im Westberlin der 60er richtungsweisend waren, sondern um die Menschen, die sich danach richteten. Entlang der Lebensgeschichte Peter Gentes und dem von ihm gegründeten Merve-Verlag beschreibt Felsch die Entwicklung einer nachdenkenden, kritischen Generation, ihren Diskussionen und Hoffnungen. Biographie, Verlagsgeschichte, Sozialgeschichte des geteilten Berlins als Hochburg der neuen Linken verbinden sich in dem Werk zu einem vielschichtigen Stimmungsbild über die Theorie als Genre, das sich kritisch mit der Welt auseinandersetzte.

Abgerundet wird der Text durch Fotos, unter anderem vom Tunix-Kongress 1978, und handschriftlichen Notizen Gentes, die die Begeisterung des 2014 verstorbenen Publizisten für die Gegenkultur der Theorie weiter unterstreichen. Dank des lockeren und zugleich treffsicheren Schreibstils ist das intensiv recherchierte Buch, dem rund 50 Seiten Fußnoten angehängt sind, den Lesern leicht zugänglich und zieht sie durch scharfe Beobachtungen in den Bann.

Philipp Felsch, Alumnus der Universität Freiburg, arbeitet als Juniorprofessor für Geschichte der Humanwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. „Der lange Sommer der Theorie“ war nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2015 in der Kategorie Sachbuch/Essayistik. 2011 erschien von ihm „Wie August Petermann den Nordpol erfand“.

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