Buchtipp: „Gipfelgespräch“ von Andrea Paluch

Donnerstag, 22. April 2021 | 

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In ihrem neuen Roman malt Andrea Paluch die innere Landschaft einer typischen Figur unserer Zeit: eine Frau mittleren Alters, deren Kinder aus dem Haus sind und die auf der Suche nach einer neuen Rolle ist. In einem „Gipfelgespräch“ mit sich selbst beweist die Protagonistin, wie beschwerlich und befreiend der Weg zur Selbsterkenntnis ist. Erschienen im Jahr 2020, zeugt der Roman von einer tiefen, hoch aktuellen Einsicht in das Bewusstsein der Menschen unserer Zeit und lässt auch politische Themen nicht außen vor.

Ein Roman ist gut, wenn er die selbst gesteckten Ziele erreicht – so die Ansicht der Protagonistin in einer ihrer vielfältigen Reflexionen. Gemessen an den eigenen Maßstäben muss „Gipfelgespräch“ daher für erfolgreich befunden werden: Es geht um das Portrait einer Frau, um die Darstellung ihrer inneren Konflikte. Der Roman soll das Abbild eines Bewusstseins liefern und nicht darum herumreden. Er steht dabei deutlich in der Tradition des Bewusstseinsromans, wenn auch auf neue Weise umgesetzt.

Foto: © Verlag

„Sie musste sich eine neue Rolle schaffen. Die Zeit als Mutter war vorbei.“

Den Rahmen für dieses Abbild liefert ein äußerer Aufbruch. Die Ich-Erzählerin macht sich auf den Weg zu einer Wanderung. Es ist eine dieser Geschichten vom plötzlichen Ausbruch aus dem Alltag: Die zweifache alleinerziehende Mutter packt eines Tages die Gelegenheit am Schopf und macht sich an den Aufstieg. Dabei stellt sich die Frage, was beschwerlicher ist: der Aufstieg auf den Gipfel oder das klärende Selbstgespräch, in das die Protagonistin dabei tritt. Das freie Denken verläuft parallel zum freien Wandern – ein sich-frei-Machen im doppelten Sinne. So begibt sich die Protagonistin in ein Zwiegespräch zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Zukunftsaussichten und der bisherigen Rolle im Leben.

„Dass sie als Frau wahrgenommen wurde und nicht als Person, war in den meisten Fällen eine ärgerliche Erfahrung.“

Klar ist der Hauptfigur in ihrem Leben von Anfang an nur eines: Sie will viele Kinder, von vielen Männern, und mit denen am besten nichts zu tun haben. Doch was kommt danach? Andrea Paluch stellt durch den Mund der Ich-Erzählerin wichtige Fragen: „Frauen waren vieles. Zuerst Töchter und Schwestern, dann Freundinnen, Geliebte, Mütter, Berufstätige, Nachbarinnen, Schwiegermütter. Wann war eine Frau nur sie selbst?“ Um solchen Fragen nachzugehen, scheut die zweifache Mutter im Roman vor ernüchternder Selbsterkenntnis und der Suche nach Antworten in ihrer komplizierten Vergangenheit nicht zurück.

„Es ließ sich zu jedem Thema jede verfügbare Information aus dem Netz holen. Über sich selbst wusste sie allerdings nicht so viel.“

In solchen inneren Konflikten offenbaren sich nach und nach hochaktuelle gesellschaftliche Themen: Wie soll man sich austauschen, wenn jeder Mensch in seiner eigenen Blase lebt? Wie politisch aktiv werden, wenn es an Idealismus fehlt? Und im Zeitalter der Massenmedien und „alternativen Fakten“ stellt sich die Frage: „Wann war jemand ein Lügner?“

In unaufgeregter, klarer Sprache und mittels analytischer Einsichten schildert Andrea Paluch zentrale Konflikte im Leben vieler Menschen, wie sie verstärkt durch die Corona-Krise zu Tage treten. Wer dem „Gipfelgespräch“ aufmerksam zuhört, wird Paluchs Protagonistin in vielen Zeitgenoss*innen wiedererkennen.

Die Autorin: Andrea Paluch arbeitet als Schriftstellerin, Übersetzerin und Literaturwissenschaftlerin. Sie studierte in Freiburg, Hamburg und Dänemark Germanistik und Anglistik. An der Universität Freiburg lernte sie ihren heutigen Ehemann Robert Habeck kennen, ebenfalls Alumnus und Parteivorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen. Seit 1999 veröffentlicht das Ehepaar gemeinsam Romane und Erzählungen, zum Beispiel die Romane Hauke Haiens Tod (2001) und Der Schrei der Hyänen (2004). Foto: © Verlag

Von Laura Glomb

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