Johannes Weidenmüller (1881-1936), der vergessene Urahn der deutschen Werbung

Montag, 23. Januar 2017 | 

Art Director, Briefing, Teaser… wir pflegen unsere gesamte Werbefachsprache wie selbstverständlich aus dem angloamerikanischen Raum zu beziehen. Dabei hatte es in Deutschland bereits eine Wissenschaft vom Marketing gegeben, als noch nicht einmal das Lehnwort existierte – unter dem schönen deutschen Namen „Anbietlehre“. Mit solchen Wortprägungen kam ihr Urheber Johannes Hans Weidenmüller aber wohl um viele Jahrzehnte zu früh. Im Gegenteil: er wurde ignoriert, bekämpft, geriet in Vergessenheit. So wie seine mindestens 80 Bücher und 2000 Aufsätze zum Thema. Der promovierte Historiker und Alumnus der Universität Freiburg Dirk Schindelbeck ist seit einem Vierteljahrhundert auf dem Gebiet der Werbehistorie tätig und schließt mit dieser Biographie eine weitere Forschungslücke.

Johannes Weidenmüller (1881 – 1936) kann als der zu Unrecht vergessene Urahn der deutschen Werbewissenschaft bezeichnet werden. Er entwickelte sie zu einer Zeit, als es dafür allenfalls das Wort „Reklame“ gab. Bereits 1908 hatte er in Leipzig die erste deutsche Werbeagentur gegründet, seine „Werkstatt für neue deutsche Wortkunst“. Sie bestand bis 1914, firmierte zuletzt als „Werbewerkstatt zum Federmann“, da in ihrem Eingangsbereich eine Figur mit einer riesigen Schreibfeder stand, zugleich das Logo der Werkstatt. Zu ihren besten Zeiten beschäftigte er hier mehr als 30 Mitarbeiter.

Dirk Schindelbeck "Der aus Reklame Werbung mahte"
Dirk Schindelbeck “Der aus Reklame Werbung machte. Johannes Weidenmüller, Werbewissenschaftler und Agenturgründer”, 108 Seiten, Omnino-Verlag, 12,99€

Aus seiner Alltagspraxis begann Weidenmüller bereits um 1911 über die wissenschaftlichen Grundlagen von Werbung nachzudenken, hielt Vorlesungen an der Leipziger Handelshochschule und forderte schon 1916 eine Werbe-Universität. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs war er gezwungen, seine Werbewerkstatt aufzugeben, widmete sich fortan der werbewissenschaftlichen Forschung. Alles was ihm an Erkenntnissen erreichbar war wie die psychotechnischen Experimente Hugos Münsterbergs (1863-1916), Wilhelm Ostwalds (1853-1932) Farbenlehre oder neue Ansätze der Sprach- und Kommunikationswissenschaft, versuchte er in seine Werbelehre zu integrieren. 1916 definierte er Kundenwerbung erstmals als „angebotlichen Nachrichtendienst“ eines Unternehmens: „Werbung ist Nachricht von Ware, Dienstleistung oder Geschäft in Willen bewegender Form.“

1926 erschien seine „anbietlehre“ – als konsequente Weiterentwicklung seines Buchs „Kurzer Grundriss der Werbelehre“ von 1916. Im Bestreben, werbliche Massenkommunikation möglichst ohne Redundanzen zu gestalten, übernahm er ab 1921 die Kleinschreibweise, inspiriert sowohl durch Walter Porstmanns (1886-1959) Buch „Sprache und Schrift“ (1920) als auch durch den ihm befreundeten Kleinschreib-Verfechter Hans Lorenz Stoltenberg (1888-1963). Von diesem Zeitpunkt tragen alle Weidenmüller-Schriften („drogers kundenwerbung“, „100 worte werbelehre“ etc.) die Ordnungszahl des amerikanischen Bibliotheks-Systematikers Melville Dewey (1851-1931), die ihren Platz im Wissenschaftsgebäude anzeigen.

Doch Kleinschreibweise, Wortneubildungen und seine Selbstdarstellung als „werbwart weidenmüller“ drängten ihn in Fachwelt und Öffentlichkeit in eine Außenseiterrolle. Seine „anbietlehre“ wurde von den Zeitgenossen ebenso ignoriert wie seine nicht nachlassenden Bestrebungen, Werbelehre als Unterrichtsfach im akademischen Betrieb zu verorten. Es erscheint wie eine Ironie der Geschichte, dass Ende 1936 die „Höhere Reichswerbeschule“ in Berlin den Betrieb aufnahm, er selbst jedoch kurz zuvor bei einem Kuraufenthalt in Baden-Baden verstarb.

Als nach dem Zweiten Weltkrieg die gesamte Nomenklatur der Werbefachsprache aus den USA übernommen wurde, geriet Weidenmüller endgültig in Vergessenheit. Und selbst diejenigen, die sich seiner Wortneubildung „Blickfang“ bis heute wie selbstverständlich bedienen, ahnen nicht einmal, wer deren Urheber einst gewesen war.

Der promovierte Historiker und Alumnus der Universität Freiburg Dirk Schindelbeck ist seit einem Vierteljahrhundert auf dem Gebiet der Werbehistorie tätig und schließt mit dieser Biographie eine weitere Forschungslücke.

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