Oral History: Studienerfahrung, Alltag, Politik

Montag, 7. November 2016 | 

Schlagwörter »  |  Thema: Allgemein, Alumni fördern, Blog

Geschichte greifbar machen, nahebringen, Geschichte nicht nur in Form von Sekundärliteratur oder Quellenanalysen „erlesen“: Das war meine Motivation für die Auswahl des Kurses zur Oral History mit dem Thema „Studierende in Freiburg: Studienerfahrung, Alltag, Politik” bei Prof Dr. Karin Paletschek und Privatdozentin Dr. Karin Orth. 

Alumnus Max Dehmel im Zeitzeugeninterview
Alumnus Max Dehmel im Zeitzeugeninterview zur “Generation Adenauer”. [Foto: privat]

Und in der Tat: Durch meine, von den Alumni finanzierte Reise nach Berlin, wo ich zwei ehemalige Studenten aus Freiburg interviewen konnte, hatte ich tatsächlich das Gefühl, buchstäblich auf ‘lebendige Geschichte’ zu treffen. Mit den Studenten wurden Interviews zu deren Studienzeit in Freiburg durchgeführt; sie wurden aufgezeichnet und dem Universitätsarchiv übergeben, wo sie für weitere Forschungen – unter anderem auch zur Erarbeitung von neuen Ausstellungseinheiten im Uniseum – zur Verfügung stehen. Im Folgenden soll nun hier auf die Gesprächsinhalte eingegangen werden.
Max Dehmel studierte in den späten 1950ern Jura und vermochte es, ein Bild von Freiburg zu zeichnen, welches den meisten heute ganz und gar unvorstellbar erscheint. Auf der einen Seite Schlips tragende Studenten, die sich gegenseitig siezten und sich ohne Wohnheime, Mensen oder dem Internet zurechtfinden mussten; auf der anderen Seite die bekannten und zum Teil berühmten Professoren, für die es sich sogar lohnte mal für ein oder zwei Semester einen Abstecher nach Bonn, Berlin oder Frankfurt zu machen, wo man ja Adorno und Horkheimer hören konnte.
Der Krieg war noch allgegenwärtig, eine ganze Generation war weggefallen – ein (guter) Uniabschluss öffnete den Studierenden, die meist aus privilegierten, bürgerlichen Elternhäusern kamen, damals hauptsächlich noch Männern, Tür und Tor in der Wirtschaft, dem Staatsdienst oder, wie bei Max Dehmel, in der Politik. Die “Adenauer-Generation”, so Dehmel, sei voller Menschen gewesen, die es sich zum Lebensziel erklärten anzupacken und etwas zu erreichen- ebenso wie das gesamte Land physisch und moralisch wieder aufgebaut werden musste. Doch die andere Seite der Wirtschaftswunder-Generation war die schwerwiegende Last der Geschichte. Selbst an der Universität wurden Terrorherrschaft, Holocaust und personelle Kontinuitäten nicht angesprochen, auch nicht bezüglich bekannter Gelehrter wie Martin Heidegger.

Alumnus Wolf-Dieter Hasenclever
Alumnus Wolf-Dieter Hasenclever als Zeitzeuge der “68er-Bewegung”. [Foto: privat]

Dies änderte sich wenige Jahre später schlagartig: Wolf-Dieter Hasenclever kam Mitte der 1960er nach Freiburg, als sich erste Risse in der politisch wie sozial verkrusteten Gesellschaft abzeichneten. Die zuvor prognostizierte “Bildungskatastrophe” führte bei den Studierenden zu einer kritischen Auseinandersetzung mit einem in die Jahre gekommenen Universitätsapparat. Forderungen nach einer Öffnung hin zu neuen Methoden und Inhalten in der Lehre, ebenso wie nach mehr Mitbestimmung wurden laut: Eine Drittelparität sollte es den Studierenden ermöglichen, auf Augenhöhe mit dem Mittelbau und den Professoren Universitätspolitik zu betreiben. Hierbei verschärfte sich auch der Umgangston: Autoritäre Professoren wurden auf einmal lautstark kritisiert, Vorlesungen mit sit-ins “gesprengt”, eine geplante Fahrpreiserhöhung der VAG mit Randale und Straßenblockaden beantwortet – der “Mythos 68” nahm seinen Lauf.
Doch so sehr der erste Blick täuschen mag, die Hochphase der Studentenbewegung verlief in Freiburg wesentlich harmonischer ab als in Städten wie Berlin oder Frankfurt. Hasenclever machte hierfür vor allem die innere Organisation des Allgemeinen Studierendenausschusses verantwortlich: Dem von der Mehrheit gewählten Vorsitzenden wurde stets ein Vertreter aus dem entgegengesetzten politischen Spektrum beigefügt, was eine konsensorientierte Studierendenpolitik ohne Provokationen und ohne tagespolitische Stellungnahmen nach sich zog. Weiterhin lehrten in Freiburg in einigen Fachbereichen bereits Dozierende, die ebenso an Reformen interessiert waren und partiell ein offeneres Klima schufen.
Die Methode der Zeitzeugeninterviews bietet Historikern einen faszinierenden und auch sehr persönlichen Einblick in das Verhältnis der Befragten zu ihrer erlebten Geschichte. Max Dehmel und Wolf-Dieter Hasenclever boten mir aufgrund ihrer freundlichen, informierten und redefreudigen Art einen sehr aufschlussreichen und auch kontroversen Einblick in ihre Studienzeit in Freiburg in den späten 1950er- und 1960er-Jahre. Einige Aspekte des Interviews werden sicherlich in die wissenschaftliche Forschung einfliessen und thematisiert werden – ohne die finanzielle Unterstützung der Alumni in Freiburg wäre dies nicht möglich gewesen.

Ein Bericht von unserem Studierenden Jan Martyniak.

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