Der Barbar und der Antichrist
Samstag, 19. November 2016 |
In “Luther der Ketzer” zeichnet der Historiker und Alumnus Prof. Dr. Volker Reinhardt ein Bild unterschiedlicher Paradigmen und kultureller Gegensätze. Er beschreibt, wie der Vatikan die Lichtgestalt aus dem fernen Wittenberg wahrnahm und welche grundlegenden sozio-kulturellen Konflikte der Reformation eigentlich zu Grunde lagen.
Wenn sich die 95 Thesen von Wittenberg im nächsten Jahr zum fünfhundertsten Mal jähren, ist Martin Luther, der große Reformator, Übersetzer der Bibel und Schöpfer der deutschen Einheitssprache, kaum jemandem unbekannt. Um den mutigen Mönch hat sich heute der Nimbus eines Heiligen entwickelt; ein Personenkult, der sich durch Spielfilme und zahlreiche Bücher weiter verfestigt hat.

Der Historiker Volker Reinhardt von der Universität Fribourg (CH) zeichnet ein etwas anderes Bild von dem bekannten Reformator. Für ihn ist Luther auch ein genialer Propagandist, der laut – ja bisweilen pöbelnd – den Diskurs seiner Zeit zu lenken wusste. In seinem Buch rekonstruiert er die Ereignisse und Verflechtungen bis hin zur Reformation. Beginnend in seinen Kindheitsjahren vollzieht er Luthers Entwicklung nach, beleuchtet die kirchenpolitischen und gesellschaftlichen Umstände, in deren Bewusstsein er aufwuchs und die ihn auch später nachhaltig prägten. Wie veränderten die Zeit im Kloster und seine Reise nach Rom die Wahrnehmung des jungen Luthers auf das Papsttum?
Besonders spannend ist dabei der Perspektivwechsel durch den Blick in die vatikanische Korrespondenz: Wie nahm der Vatikan die Umtriebe jenseits der Alpen war? Was setzte man dem Aufrührer aus dem fernen Wittenberg entgegen? Unterschätzte Rom lange Zeit die Gefahr, die von Luthers ungehobelten Pamphleten ausgingen?
In seinem Erzählstil gelingt Reinhardt der Spagat zwischen wissenschaftlicher Akkuratesse und Unterhaltung. Er schreibt teilweise detailliert – doch immer lebhaft – von den Ereignissen und räumt dabei mit wissenschaftlich unhaltbaren Mythen, Selbstdarstellungen und Übertreibungen auf.
Den Personenkult um Luther durchbricht Reinhardt auch immer dann, wenn er zeigt, wie die Umstände losgelöst von Luther eine Abspaltung der Deutschen von Rom bewirkten. Für ihn ist Luther nicht das strahlende theologische Genie, sondern der absehbare Funken am explosiven Pulverfass. Für ihn finden sich die Ursachen der Reformation weniger in den theologischen als in den kulturellen Differenzen: Er zeigt den frappierenden Gegensatz eines kultivierten, weltoffenen Vatikans mit zunehmend merkantil-profanem Glaubensdogma einerseits und dem bäuerlich-rückständigen Deutschen, der – finanziell durch die Kurie benachteiligt – sich als deren “Goldesel” verspottet wähnte.
“Luther der Ketzer” lebt von seiner Liebe zum Detail, seinen authentischen Quellen und dem lebhaften Stil Reinhardts. Ein Buch, das Interesse für die der Reformation zugrundeliegenden Ursachen zu wecken vermag.