Versteht sich das Moralische von selbst? – Bernhard Schlinks “Erkundungen”
Freitag, 1. Juli 2016 |
Bernhard Schlink hat als habilitierter Jurist und früherer Richter zum Thema Recht und Gerechtigkeit einiges zu sagen. In seinen literarischen Werken – inbesondere seinem bekanntesten Roman “Der Vorleser” – beleuchtete er diesen juristisch moralischen Komplex eingehend. In seiner neuesten Publikation “Erkundungen” greift der renommierte Autor und Freiburger Alumnus nochmals die Themen Geschichte, Moral, Recht und Glauben in literarischen Kurzformen auf.
Wie ist es, wenn jemand ohne Geschichte lebt? Versteht sich das Moralische von selbst? Was ist Verrat? Wie können wir uns mit unserer Vergänglichkeit abfinden? Aus der Sicht eines Richters, Historikers, Philosophen und – in seinem letzten Kapitel – auch eines Theologen behandelt Schlink Themen um Moral, Geschichte, Recht und auch Religion. Anders als bei seinen vorherigen Büchern wie den Selbs-Krimis oder seinem wohl berühmtesten Werk, dem “Vorleser” – vielen nicht nur seit der Hollywoodverfilmung mit Kate Winslet ein Begriff – handelt es sich beim vorliegenden Band nicht etwa um einen Roman. Vielmehr sind es Gedanken, gesammelte Vorträge, Essays und Predigten der letzten Jahre.
Bernhard Schlink war in den 1970er-Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Freiburg tätig. Die Vergangenheit liegt dem Rechtshistoriker und -philosophen besonders am Herzen, das ergibt sich aus seiner akademischen Laufbahn. Als Richter am Verfassungsgericht jedoch musste er ebenso auf aktuelle, rechtlich-moralische Probleme eingehen. So beleuchtet er die schwierige Debatte um die In-vitro-Befruchtung oder die Problematik der Objektivität auf dem Richterstuhl.

“Der Band handelt von der Pflicht zu erinnern, dem Recht zu vergessen und der Wende unserer Erinnerungskultur zu einer Kultur des Denunziatorischen; von dem Moralischen, das sich von selbst versteht , und von Verrat, dem Opfer des Lebens und der Zukunft der Verantwortung als moralischen Herausforderungen; davon, was es bedeutet, Jurist und Richter zu sein, und wie sich die Verpflichtung auf das Recht verändert; und schließlich von der Geltung, die der Glaube auch im Zweifel noch behält.” Mit diesen Sätzen steckt Schlink im Vorwort seiner neuen “Erkundungen” den thematischen Rahmen des 270-seitigen Büchleins sehr präzise ab.
Recht und Moral, Geschichte und Glaube
In den vier Kapiteln der “Erkundungen”, geordnet nach Geschichte, Moral, Recht und Glaube, scheut sich Schlink nicht vor deutlicher Meinungsäußerung. So wirft er der heutigen Jugend vor, dass sie allzu leichtfertig mit der Vergangenheit ins Gericht geht. Für ihn stellt dies eine verlogene Kultur des Denunziatorischen dar. Das Verhältnis von Recht und Moral, das sich wie ein roter Faden durch Schlinks gesamtes Werk hindurch zieht, wird in verschiedenen Schattierungen ausgeleuchtet. Die “tiefen Wunden des Holocaust” spiegeln hierbei den moralischen Rahmen, an dem sich das Recht der Gegenwart und der Vergangenheit messen müssen. Erinnern, aber auch vergessen können- das ist Schlinks persönlicher Appell, für einen ausgewogenen, lehrreichen Umgang mit Geschichte.
Die “Erkundungen” Bernhard Schlinks sind ein interessanter Beitrag zu aktuellen Debatten wie die um Thilo Sarrazin oder die In-vitro-Befruchtungen, aber auch um die ewigen Fragen um Recht und Moral, Geschichte und Glauben.