Kind, versprich mir, dass du dich erschießt

Dienstag, 4. August 2015 | 

Schlagwörter »  |  Thema: 2015-2, Allgemein, Alumni Buchtipps, Newsletter

Dem promovierten Freiburger Alumnus Florian Huber gelingt es mit seinem Werk „Kind, versprich mir, dass du dich erschießt“ die Aufmerksamkeit des Lesers auf ein bisher verschwiegenes Kapitel deutscher Geschichte zu lenken: Die Massenselbstmorde innerhalb der deutschen Bevölkerung kurz vor Ende des zweiten Weltkrieges.

Frühling 1945: Nach 12 Jahren steht das tausendjährige „Dritte Reich“ der Nationalsozialisten kurz vor dem Zusammenbruch. Zahlreiche NS-Größen entziehen sich der Bürde der Verantwortung für den Tod von Millionen Menschen durch den Freitod. Die Selbstmorde der nationalsozialisitschen Elite wurden wissenschaftlich gut dokumentiert. Darüber hinaus breitete sich jedoch in Deutschland eine Selbstmordwelle aus, die  sich nicht auf Führerhörigkeit oder Verzweifelung über das Ende der nationalsozialistischen Ideologie zurückführen läßt.

Cover: Kind, versprich mir, dass du dich erschießt
Florian Huber: Kind, versprich mir, dass du dich erschießt, Berlin Verlag, 304 Seiten, 22,99€.

Florian Huber erzählt in seinem Werk nicht die Geschichte verblendeter Nazis, sondern berichtet über das Schicksal von Müttern, Vätern und Kindern, über den Metzger, den Dorflehrer, den Arzt, den Gärtner, über die Schneiderwerkstätte und den Tante Emma Laden um die Ecke.

Das die Geschichte exemplarisch an der Norddeutschen Stadt Demmin behandelnde Sachbuch ist detailliert und schonungslos. Huber, der Autor und Regisseur zahlreicher Dokumentarfilme, Reportagen und Sachbüchern, schreibt mit einer Plastizität und Nähe, die dem Thema den gebührenden Respekt zollt. Anhand vieler persönlicher und zunächst auch voneinander unabhängiger Schicksale rezipiert er das Geschehene und wahrt dabei die Authentizität stets durch in den Text eingearbeitete Tagebucheinträge, die jedem Leser nahe gehen. Gemeinsam ist den Erzählungen die Angst der Flüchtenden und Zurückgelassenen  vor der immer schneller näher rückenden Roten Armee und die mit ihr verbundenen Gräueltaten und Racheakten an den „Befreiten“. Letztlich kreuzen sich die Schilderungen in Demmin und gipfeln in schierer Verzweiflung, nachdem die sich zurückziehende Wehrmacht sämtliche Brückenverbindungen über die die Stadt umfließenden Flüsse sprengen lässt. Menschen jeden Alters und jeder gesellschaftlichen Stellung ertränkten sich infolgedessen im Wasser, erhängten sich am Dachboden, oder griffen zur Pistole. Viele halfen sich dabei gegenseitig.

Einen Grund sieht Florian Huber in der konkret erlebten Gewalt. Plünderungen, Vergewaltigungen, Brandstiftung und willkürliche Erschießungen waren nicht nur Teil des von der NS-Propaganda geschürten Bildes über die Rote Armee, sondern vielerorts grausame Realität. „Der Freitod“, so Huber, „war ein Vorwegnehmen des Alptraumes. Denn es wurde nicht nur die blinde Brutalität des Gegners gefürchtet, sondern auch dessen Vergeltung für die von der Wehrmacht erfahrenen Verbrechen”.

Mit „Kind, versprich mir, dass du dich erschießt“, erzählt der Freiburger Alumnus die Tragödie des Untergangs der „kleinen Leute“ und gewährt damit einen Einblick in die zerstörten Seelen der Stunde Null – ein schonungsloses Werk gegen das Vergessen.

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