Was macht eigentlich: Judy Irving?
Samstag, 7. November 2015 |
Im Jahr 1967 studierte Judy Irving im Rahmen des IES-Abroad-Programms an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Nach einem Grundstudium der Psychologie am Connecticut College und einem Master in Film und Broadcasting in Stanford begann sie ihre Karriere als Dokumentarfilmerin.
Judy Irving schuf unter Anderem den mit dem Großen Preis des Sundance Film Festivals und einem Emmy prämierten Dokumentarfilm “The Dark Circle”, welcher sich mit Missständen in der Nuklear-Industrie befasst. Ihr bekannter Film “The Wild Parrots of Telegraph Hill” schildert die Beziehung zwischen einem obdachlosen Straßenmusik und einem Schwarm wilder Papageien mitten in San Francisco. In ihrem aktuellen Film „Pelican Dreams“ begleitet sie den Pelikan „Gigi“ von seiner Notlandung auf der Golden Gate Brücke bis zu einer Pelikan-Aufnahmestation und zurück in die Wildnis. Alumni’Aktuell sprach mit Judy Irving über ihr Studium, ihre Zeit in Freiburg und ihren aktuellen Film.

Alumni’Aktuell: Wie kamen Sie von der Psychologie zum Film? Wann wussten Sie, dass Sie Filme machen wollten?
Judy Irving: Als ich Psychologie studierte, war Behaviorismus sehr angesagt. Meine Professoren drängten mich, einen Abschluss zu machen, aber ich hatte kein Interesse an Stimulus-Response-Forschung.
Von 1969 bis 1971 arbeitete ich als freiberufliche Sachbuchautorin, was aber sehr schwierig war. Ich begann mit der Fotografie, um damit meine Artikel zu unterstützen. Von da kam mein Interesse am Film. Jemand lieh mir eine alte 16mm Bolex-Kamera, mit der ich meine ersten Szenen aufnahm. Es war unglaublich!
Alumni: Wie hat Ihr Studium Ihre Filme beeinflusst?
Irving: Kulturelle Bewegungen hatten, mehr als mein Studium, den größten Einfluss auf meine Filme: die Umweltschutzbewegung, die Anti-Atomkraft-Bewegung und der Feminismus. Ich bin mir sicher, dass die „Tiefenpsychologie“ mir geholfen hat, eine bessere Interviewerin zu werden! Gestaltpsychologie hingegen hängt mit meinem Bild der Welt zusammen: Menschen und andere Spezies in einer Umgebung, nicht die Menschheit in einem städtischen Vakuum.
Alumni: Wie halten Sie die Balance zwischen Privatem und Berufsleben? In welchem Verhältnis steht beides zueinander?
Irving: Ich sehe mich nicht als Mensch mit einem starken Unterschied zwischen privatem und beruflichem Leben. Im Gegenteil, sie sind komplett miteinander verbunden. So habe ich beispielsweise einen Film über Mark Bittner und seine Beziehung zu einem Schwarm wilder Papageien in San Francisco gedreht. Am Ende des Films wurden er und ich ein Paar. Nun sind wir verheiratet, leben auf dem „Telegraph Hill“, direkt neben seinem Lebensort im Film, und kümmern uns um zwei „gerettete Papageien“ aus dem Schwarm.
Alumni: Woher nehmen Sie die Ideen für Ihre Filme?

Irving: Die Ideen ergeben sich aus dem, was um mich herum passiert. „Dark Circle“ beispielsweise, ein Film den ich über die Nuklear-Industrie drehte, entstand nachdem ich über das Schicksal von Karen Silkwood gelesen hatte: Sie wurde mit Plutonium vergiftet und anschließend getötet, um Ihre Zeugenaussage zu den unsicheren Arbeitsbedingungen der Nuklearfirma, bei welcher Sie arbeitete, zu verhindern.
„The Wild Parrots of Telegraph Hill“ begann, als zwei mir sagten „Du musst einen Film über diesen Typen machen, der die Papageien füttert!“. Sie sagten mir das, weil ich schon eine Menge Filme zu Vögeln gemacht hatte. Und Sie sollten Recht behalten! Es stellte sich heraus, dass er deutlich mehr als ein Typ war, der Papageien fütterte. Dieser Film veränderte mein Leben und ist mein bislang erfolgreichster.
„Pelican Dreams“ wollte ich schon sehr lange machen. Tatsächlich habe ich schon vor meiner Begegnung mit den Papageien mit dem Film begonnen. Doch sobald diese in die Welt hinausgeflogen waren, konnte ich ja jederzeit zu „Pelican Dreams“ zurückkommen und weitermachen. Mein Interesse an Pelikanen kommt übrigens von meinem Großvater, was im Film auch deutlich wird.
Alumni: Was haben Sie auf Ihrem IES-Programm in Freiburg gemacht? Was haben Sie studiert? Wie war Ihr Alltag in Freiburg?
Irving: Wir hatten viele Tutorien ergänzend zu den Kursen an der Universität, welche uns helfen sollten, zu „überleben“. Ich habe in der Thomas Morus Burse gewohnt und bin mit dem Fahrrad oder der Straßenbahn in die Stadt gefahren. Ich studierte Ontologie, Musikgeschichte, Tiefenpsychologie, Märchen (Brüder Grimm), Sprechkunde und Persönlichkeit. Ich erinnere mich, dass ich mich vor allem in Ontologie total überfragt fühlte: Kants Kritik der reinen Vernunft, Heideggers Sein und das Seiende – oder war es das Dasein? (Im Englischen haben wir ja zum Glück nur ein Wort für „sein“) sowie Nietzsche: „Das Weib ist noch nicht einmal flach“. Ich bin kein großer Fan von Nietzsche. Ich musste „Was ist Metaphysik?“ lesen, aber ich bezweifle, dass ich viel verstanden habe. Ich studierte mir auch Stücke klassischer Musik für einen Test im Fach Musikgeschichte.
Mein Alltag bestand zum Glück nicht nur aus dem Studium. Wir sind an der Dreisam spazieren gegangen, wanderten auf den Schauinsland und im Schwarzwald, besuchten Schlösser und Kathedralen sowie den Bodensee und unseren geliebten Tutor und seine Frau, Wolfgang und Ingrid Möller.
Alumni: Sie scheinen sehr interessiert an Filmen über Tiere zu sein. Wollten Sie schon immer Filme mit Tieren machen oder fanden hier ihre Interessen den Weg in den Beruf?
Irving: Ich habe Filme über die Nuklearthematik, Mikro-Kredit Banken in Nepal, Landverteilung in Simbabwe, afrikanisch-amerikanische Gemüsebauern in Arkansas und viele andere Dinge gemacht. Die Beziehung zwischen Menschen und wilden Tieren ist ein Interesse, das sich langsam über viele Jahre entwickelt hat. Als ich ein Kind war, vermittelte mir mein Großvater die Faszination für Vögel. Dieses Interesse schwand über Jahrzehnte wieder, aber jetzt ist es wieder da. Vögel sind die einzige andere Spezies, die die Menschen in Städten sehen und kennenlernen können. Tiere verdienen Respekt und Anerkennung – weit mehr, als sie diese in unserer menschzentrierten Welt erhalten, wo der Homo Sapiens das Zentrum ist. Während ich schreibe, sitzt „Big Bird“ krächzend auf meiner Schulter. Sie stimmt mir zu.

Alumni: Was hat Sie so für Non-Profit-Dokumentationen begeistert, dass Sie diese lieber als Filme für „großes Geld“ machen?
Irving: Ich bin Dokumentarfilmerin mit ganzem Herzen, ich mag einfach das wahre Leben. Seit ich 13 bin, schreibe ich deshalb auch Tagebuch. Das schließt das große Geldverdienen aus. Der einzige Film, der sich bisher finanziell für mich gelohnt hat, war „The Wild Parrots of Telegraph Hill“. Es war eine wirkliche Erleichterung für mich, dadurch ein paar Jahre ohne konstantes Fundraising leben zu können. Aber niemand macht Dokumentationen des Geldes wegen, also will ich mich nicht beschweren.
Da Dokumentarfilme meist ohne Drehbuch und mit „echten“ Menschen arbeiten, dauert es im Regelfall sehr lange solche Filme zu drehen. Vier bis fünf Jahre sind für eine komplette Dokumentation nichts Unübliches. Aber wenn man eine echte Geschichte erzählen will, warum sollte man sie dann fälschen? Ich mag es auch, auf diesen einen perfekten Moment für eine Szene zu warten. Das gefällt mir so am Naturfilm. Man entspannt sich. Alles was man braucht, Licht, Szenen, Texturen und Einstellungen zeigen sich von selbst. Man muss nur abwarten. Ich glaube, es braucht auch keine besondere Geduld dafür. Es ist einfach eine Freude. Man entfernt sich vom Gestellten und erlebt, was wirklich ist.
Alumni: Wie kamen Sie auf die Idee, diesen Film zu machen? Wussten Sie bereits, dass Sie einen Film über Pelikane machen wollten, oder war die Landung des Pelikans Gigi auf der Golden Gate Bridge die Inspiration?
Irving: Gigis Landung auf der Brücke gab mir die Eröffnungssequenz für den Film, auf die ich lange gewartet hatte! Ich hatte schon vor „Wild Parrots“ im Laufe der Zeit einige Szenen über Pelikane gedreht. Nach dem Abschluss von „Wild Parrots“ habe ich beschlossen, dass es an der Zeit wäre, endlich meinen Pelikan-Film zu beginnen. Ich wollte nicht, dass es eine Wissens-Dokumentation oder ein Standard-Bildungsfilm wird. Ich wollte eine Geschichte erzählen, um es persönlicher und poetischer zu machen.
Alumni: Wie hörten Sie zuerst von Gigi?
Irving: Eine Freundin von mir stand im Stau, den Gigi auf der Golden Gate Brücke verursachte. Sie schrieb mir ein E-Mail. Ich rief die Brückenpolizei an und fand heraus, wohin der Vogel gebracht wurde. Dann begann ich zu filmen. Mein Ehemann durchsuchte in den folgenden Tagen das Internet und fand bei Youtube ein Video des Pelikans auf der Brücke, einschließlich seiner „Verhaftung“. Der Radfahrer, welcher das Video gedreht hat, gab mir seine Genehmigung und das Video wurde die Eröffnungssequenz des Films.